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Streaming-Kolumne

Die Unvollendeten: Über den Wert gecancelter Serien

Staffellauf #2 von Dobrila  •  12. August 2021

Es ist tragisch, wenn eine geliebte Serie vorzeitig abgesetzt wird – über ihre Qualität und Nachwirkung sagt dies aber wenig aus.

Jede*r von uns hat sie: eine Serie, die uns über eine oder mehrere Staffeln mitsamt ihren liebenswerten Figuren und spannenden Erzählsträngen ans Herz gewachsen ist – und dann abgesetzt wurde. Eiskalt und ohne Vorwarnung. Was bleibt, ist die letzte Episode, die aber kaum einem alles auflösenden Finale nahekommt, oder schlimmer noch: mit einem Cliffhanger endet.

Das letzte Mal ist mir dies mit der Netflix-Produktion „Glow“ passiert: Über drei Staffeln lang begleitete ich mit dieser Comedy-Drama-Serie ein Frauen-Wrestling-Team durch die 1980er. „Glow“ war grell, witzig, ging sexistische und rassistische Stereotypen frontal an und bot hochinteressante Figuren mit enormem Entwicklungspotenzial. Im letzten Jahr dann die traurige Nachricht: Es wird keine vierte Staffel geben und ich muss mich nun mit den losen Enden der Erzählung und den offenen Figurenschicksalen begnügen, die uns eine eher schwache dritte Staffel hinterlassen hat.

 

Entscheidung nach Datenauswertung und Eingreifen von ‚ganz oben‘

Wann immer eine Serie frühzeitig abgesetzt wird, liegt der Verdacht nahe, dass sie einfach zu wenig geschaut wurde. Doch während sich dies in Zeiten des linearen Fernsehens einigermaßen transparent mit den veröffentlichten Einschaltquoten abgleichen ließ, vermelden die Streaminganbieter keine konkreten Zahlen dazu, wie ihre Serien tatsächlich beim Publikum abschneiden.

Netflix, bekanntlich ein Fan von minutiöser Datenauswertung, lässt bislang nur nach außen, dass die Entscheidung über die Fortführung einer Serie nach dem Verhältnis zwischen ihren Produktionskosten und dem von ihr „generierten Wert“ getroffen werde. Nachdem aufgefallen ist, dass der Streaminggigant in den letzten Jahren häufig Serien nach der zweiten Staffel absetzt (zuletzt etwa „Altered Carbon“), wird in Branchenkreisen spekuliert, dass dies wohl an einem „cost-plus model“ liegt. Demnach trägt Netflix nicht nur die Produktionskosten, sondern auch mit jeder Staffel wachsende Prämien für die Serien-Macher*innen. Folglich ist es also kostengünstiger, neue Serien zu produzieren, als eine bereits gestartete Serie fortzuführen.

Neben solchen undurchsichtigen, datengetriebenen Erwägungen entscheiden mitunter auch gesamtstrategische Eingriffe von ‚ganz oben‘ über das Schicksal einer Serie. So wollte sich Amazon Prime 2014 noch als Anbieter anspruchsvoller Qualitätsserien à la HBO positionieren und erntete Auszeichnungen für „Transparent“ und „Mozart in the Jungle“. Doch Jeff Bezos, gewohnt ambitioniert (manche sagen gierig), träumte von einem breitenwirksamen Hit wie „Game of Thrones“ und setzte 2017 die literarhistorischen Drama-Serien „The Last Tycoon“ und „Z: The Beginning of Everything“ nach ihrer ersten Staffel ab. Dafür bescherte uns Prime dann 2019 das unfreiwillig komische Feen-Epos „Carnival Row“ – Danke für gar nichts.

Die frühzeitige Absetzung einer Serie ist also keineswegs immer auf Qualitätsmängel zurückzuführen – dies dürfte 2020 offensichtlich geworden sein, als einige Serien auch pandemiebedingt ihr Ende fanden: So wurde „Glow“ u.a. aus logistischen Gründen abgesetzt, da die Dreharbeiten für die vierte Staffel keinesfalls unter Einhaltung von Corona-Schutzbestimmungen fortgeführt werden konnten. Terminliche Probleme durch pandemiebedingte Verzögerungen brachten zudem der Netflix-Serie „I Am Not Okay With This“ und der Showtime-Produktion „On Becoming a God in Central Florida“ das Aus nach der ersten Staffel.

 

Unser Bedürfnis nach „Closure“

Beim Streaming-Publikum wächst derweil der Unmut über früh gecancelte Serien. Schaut man sich in Foren um (einfach der Tränenspur der „Firefly“-Fans folgen…), beklagen viele Zuschauer*innen die Unabgeschlossenheit ihrer Lieblingsserien und sind sich ziemlich einig darin, dass eine Serie nach ihrer Absetzung nicht mehr empfehlenswert ist. Der Grund: Sie bleibt unaufgelöst und lässt die Schauenden ratlos und dauerhaft kopfzerbrechend zurück.

Dass wir dies so unerträglich finden, hat vermutlich mit dem zu tun, was der amerikanische Sozialpsychologe Arie Kruglanski in den 1990ern als „need for closure“ (Bedürfnis nach Abgeschlossenheit) beschrieb. Der Begriff bezieht sich im Privaten vor allem auf Verlusterfahrungen, die wir zum Beispiel in Form eines Beziehungsendes oder eines Jobverlusts machen. In solchen Situationen wünschen sich viele eine klare Auflösung (etwa mittels einer Aussprache), um anschließend loslassen und mit dem Leben einigermaßen unbelastet fortfahren zu können.

Angewandt auf die (natürlich nebensächlichere) Erfahrung mit Serien, ist unser Bedürfnis nach „closure“ wohl erst dann erfüllt, wenn eine Serie ein unserer Erfahrung mit ihr gebührendes Ende findet. Im Idealfall fügen sich dann alle noch lose herumliegenden Puzzlestücke zu einem sinnstiftenden Ganzen zusammen und das weitere Schicksal geliebter Figuren zeichnet sich einigermaßen klar und zufriedenstellend ab.

Man muss nicht unbedingt auf die Realität fernab fiktiver Welten blicken, um zu erkennen, dass der Wunsch nach „closure“ zwar verständlich, aber nicht immer erfüllbar ist. Es reicht schon, sich an die enttäuschenden Finalfolgen sehr populärer Serien zu erinnern: Während die Fans über das Gelingen der letzten Episoden von „Lost“, „The Sopranos“ oder „How I Met Your Mother“ noch streiten, ist sich die Mehrheit einig, dass man es im Fall von „Game of Thrones“ und „Dexter“ verhunzt hat (letztere erhält ja nun doch noch eine final-finale Staffel). Die Ansammlung an ausufernd indignierten Artikeln und Kommentaren zu diesen Finalepisoden lässt vermuten, dass wir hier noch immer weit von „closure“ entfernt sind.

 

Unvollendet, aber prägend

Führen wir uns stattdessen lieber Serien vor Augen, die einen (zunächst) unabgeschlossenen Lauf hatten, aber weit über ihren kurzen Ausstrahlungszeitraum hinauswirken sollten: Etwa die Teenie-Drama-Serie „Willkommen im Leben“, die 1994 mit Claire Danes und Jared Leto in den Hauptrollen das grungige Gegenstück zu Reich&Schön-Schmonzetten wie „Beverly Hills 90210“ bildete. Ohne diese eine (!) Staffel „Willkommen im Leben“ wäre wahrscheinlich ein so konversationsgeladener Serienhit wie später „Dawson’s Creek“ nicht möglich gewesen.

Die enorm beliebte HBO-Serie „Deadwood“ (2004-2006) währte gerade mal drei Staffeln (und einen spät hinterhergeschobenen Kinofilm), aber trug wohl maßgeblich dazu bei, das (Neo-)Western-Genre am Leben zu erhalten. Und wir wissen, welch anhaltender Beliebtheit es sich von den Coen-Brüdern („The Ballad of Buster Scruggs“) bis zu Tarantino („The Hateful Eight“) weiterhin erfreut.

Und schließlich, natürlich, die wohl rätselhafteste Serie mit dem unbefriedigendsten Ende schlechthin (ich lasse mal die Jahrzehnte später nachgelieferte dritte Staffel außen vor): „Twin Peaks“ – nach zwei Staffeln und kreativen Differenzen zwischen David Lynch und TV-Sender ABC abgesetzt, aber auf immer in die Serienhistorie eingegangen.

Das sind Serien, die es wert sind, dass man sich auf ihr abruptes Ende einlässt und die „closure“ einfach im Erleben einer jäh endenden, aber faszinierenden Seherfahrung sucht. Wer also beim Stöbern im Backkatalog der Streaminganbieter demnächst eine unabgeschlossene Serie rausfischt, die das eigene Interesse weckt: Nur zu. Kein Ende zu erleben, ist nicht das Ende.

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