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Streaming-Kolumne

Skandale und Aufreger: Surft Netflix auf der Empörungswelle?

Staffellauf #9 von Arabella  •  30. September 2021

Der „Tiger King“ kehrt zurück – und mit ihm die wohl aufsehenerregendste Serie des Streaming-Anbieters. Es ist nicht die erste, die für Wirbel sorgte.

Es ist eine dieser Dokumentationen, an deren Wahrheitsgehalt man qua der gezeigten Absurditäten eigentlich fast nicht glauben kann: „Tiger King: Großkatzen und ihre Raubtiere“ nimmt die bizarre Welt der privaten Wildtierzoos in den USA in den Blick. Im Fokus der sieben Episoden steht ihr selbsternannter König, Joe Exotic. Und der gründete nicht nur den „Greater Wynnewood Exotic Animal Park“, in dem derartig katastrophale Arbeitsbedingungen herrschten, dass Mitarbeiter*innen darin Gliedmaßen verloren – sondern schaffte es immer wieder, einem Sektenführer gleich, treue Anhänger*innen zur Umsetzung seiner skurrilen Ideen um sich zu scharen. Wenn sein rätselhafter Charme dafür nicht ausreichte, waren ihm durchaus auch härtere Methoden recht – beispielsweise nutzte er Chrystal Meth, um (eigentlich heterosexuelle) Männer an sich zu binden.

Die Filmemacher*innen Rebecca Chaiklin und Eric Goode begleiteten den Paradiesvogel bei der Tierzucht, seiner Präsidentschaftskandidatur – allen voran aber seine endlosen Auseinandersetzungen mit Carole Baskin, die Exotic Tierquälerei vorwarf und dadurch zu seiner Erzfeindin avancierte. Nach zahlreichen Provokationen und Anschuldigungen, darunter die besonders schauderhafte, dass Baskin ihren millionenschweren Ehemann ermordet und an Tiger in ihrem „Big Cat Rescue“ verfüttert haben soll, eskalierte der Kleinkrieg schließlich: Exotic beauftragte einen Auftragskiller und wurde daraufhin zu 22 Jahren Haft verurteilt.

Die Produktion regte in den Feuilletons ausschweifende Diskussionen darüber an, ob man Derartiges überhaupt zeigen solle – und was es über uns als Zuschauende aussagt, wenn wir uns an voyeuristischer Unterhaltung der besonders extremen Sorte ergötzen. 

 

Klicks lügen nicht

Dabei war der „Tiger King“ weder der erste noch der letzte Netflix-Inhalt, der eine Welle der Empörung nach sich zog. Bereits drei Jahre vorher erhitzte die Young-Adult-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ die Gemüter, weil sie sich laut zahlreichen Kritiker*innen auf bedenkliche Art und Weise mit Suizid auseinandersetze. Vor allem in den USA warnten Psycholog*innen und Gesundheitsorganisationen, dass die Serie um die jugendliche Hannah (Katherine Langford), die vor ihrer Selbsttötung mehrere Kassetten aufnimmt, auf denen sie 13 Gründe (Originaltitel der Serie: „13 Reasons Why“) für ihre Tat nennt, zu Nachahmungstaten animieren könnte.

Netflix reagierte, indem man eine besonders drastische Szene nachträglich entfernte und eine Trigger-Warnung vor jeder Episode platzierte. Fortgesetzt wurde die Serie dennoch: Über vier Staffeln dehnte man sie aus, weit über die gleichnamige Vorlage von Jay Asher hinausgehend. Scheinbar ohne besonderen Erfolg, denn sowohl die Kritiker*innen- als auch Nutzer*innenwertungen wurden kontinuierlich schlechter.

Ob die Serie tatsächlich für einen Anstieg von Selbsttötungen verantwortlich ist, lässt sich letztlich nicht gesichert sagen. Allerdings kamen mehrere Studien – unter anderem der Medizinischen Universität Wien – zu dem Ergebnis, dass sich in den ersten drei Monaten nach Veröffentlichung der Serie mehr Jugendliche umbrachten, als statistisch zu erwarten war. Die Universität Michigan verlautbarte wiederum, dass die Wirkung der Serie besonders bei psychisch vorbelasteten Teenager*innen „besorgniserregend“ sei.

Bereits vor dem Hintergrund einer bloßen Möglichkeit einen derart negativen Einfluss auf junge Zuschauende zu haben, lässt sich Netflix‘ zögerliche Reaktion nicht anders als ignorant bezeichnen. 

 

Kalkuliert oder nicht?

Nur ein halbes Jahr nach Veröffentlichung der Großkatzen-Doku folgte auch schon der nächste Aufreger. Diesmal im Auge des Shitstorms: Der französischen Coming-of-Age-Film „Mignonnes“, der von der 11-jährigen Amy (Fathia Youssouf Abdillahi) erzählt, die sich in zwei gegensätzlichen Welten bewegt. Ihre aus dem Senegal stammenden Eltern erziehen sie strengt konservativ, während das provokante Tanzen in der Gruppe „The Cuties“ für sie zu einer Art persönlicher Rebellion wird. Während der Film selbst ausreichend Fingerspitzengefühl für die Thematik beweist, entschied sich Netflix für ein zweifelhaftes Poster zur Bewerbung des Titels. Anders als das Original-Design, das beispielsweise beim Sundance Filmfestival verwendet wurde, zeigte der Streaming-Anbieter die sehr jungen Schauspielerinnen in unpassend freizügigen Outfits und Posen – was ihm den Vorwurf einbrachte, zur sexualisierten Darstellung von Kindern beizutragen.

Ob es sich um einen kalkulierten Skandal handelt, lässt sich natürlich nicht abschließend beurteilen. Dass wirklich niemand in der Marketing-Abteilung des Streamingdienstes auf die Idee gekommen ist, dass das Plakat unangemessen sein könnte, scheint allerdings auch unwahrscheinlich. In diesem Fall reagierte der Konzern mit einer öffentlichen Entschuldigung und zog das entsprechende Material zurück – die Aufmerksamkeit hatte man zu diesem Zeitpunkt freilich bereits generiert.

 

Willkommen im Dschungel

Und dennoch: Keine Provokation brachte Netflix so viel Öffentlichkeit ein, wie Joe Exotic. Seine Story wurde zum Internetphänomen, unzählige Memes beschäftigen sich mit dem „Tiger King“, seinen Mitstreiter*innen und seiner Widersacherin. Oftmals bewegen sie sich fernab der Grenzen des guten Geschmacks.

Wirklich unangenehm scheint das Netflix nicht zu sein, hat man doch erreicht, wovon viele andere Eigenproduktionen nur träumen können: Kultstatus. Und Titel, die man unweigerlich mit der eigenen Marke assoziiert, sind wichtig, um langfristig Abonnent*innen an sich zu binden. Dieser Logik folgend, ist es nur konsequent, dass die Serie noch vor Weihnachten fortgesetzt werden soll. In der Ankündigung der zweiten Staffel spielt der Anbieter sogar bewusst mit der Aufregung, die man mit der Serie erzeugte, und versprach „noch mehr Wahnsinn, noch mehr Chaos.“

Ob das Vorgehen wirklich verwerflich ist – darüber lässt sich beherzt streiten. Von einem Stil, der sich noch groß von Sendern wie RTL und sensationssüchtigen Formaten wie dem „Dschungelcamp“ unterscheidet, zeugt es in jedem Falle nicht. Dass Netflix eine Alternative zum linearen (Privat-)Fernsehen sein möchte, lässt sich aber ohnehin immer weniger erkennen, wie zuletzt bereits die große Reality-Offensive unterstrich.

Das Motto über Programmentscheidungen scheint hier wie da das gleiche zu sein: Erlaubt ist, was gefällt. Oder eben Quoten, Klicks und Abos generiert.

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