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Streaming-Kolumne

Danke Squid Game, dass du Bridgerton vom Netflix-Thron gestoßen hast

Staffellauf #9 von Arabella  •  30. September 2021

Egal ob Fan des neuesten Netflix-Hypes oder nicht: Den Titel „meistgesehene Eigenproduktion“ hat er mehr verdient als die Historienschmonzette

Es hat sich längst herumgesprochen: Es gibt eine neue Serie an der Spitze der Netflix-Charts. Keine Eigenproduktion des Streaming-Anbieters wurde im ersten Monat nach Erscheinen von mehr Abonnent*innen gestartet als „Squid Game“ aus Südkorea.

Unglaubliche 📊 142 Millionen Haushalte haben sie seit dem 17. September eingeschaltet. Es ist ein Hype darum entstanden, der mittlerweile so gigantische Ausmaße annimmt, dass man eigentlich schon wieder skeptisch werden muss. Meine Freude darüber, dass sie den vorherigen Spitzenreiter ablöste, ist allerdings jedem Zweifel erhaben.

Zuvor gebührte der erste Platz unter den Serien dem US-amerikanischen „Bridgerton“, das am ersten Weihnachtsfeiertag letzten Jahres veröffentlicht wurde und im darauffolgenden Monat ganze 82 Millionen Haushalte erreichte.

Wobei „gebühren“ hier nicht das richtige Wort ist. Da schwingt eine gewisse Anerkennung mit, ganz so als hätten Star-Produzentin Shonda Rhimes („Grey’s Anatomy“) und Showrunner Chris Van Dusen („Scandal“) etwas Besonderes geschaffen, dem mit einem gewissen Recht, eine derart große Aufmerksamkeit zu Teil wurde.

Tatsächlich aber ist die Serie in erster Linie eine altmodische Historienschmonzette. Schlimmer noch: eine altmodische Historienschmonzette, die vorgibt, mehr als das zu sein. 

 

Mut zur Kritik

Keine Frage: Man kann „Squid Game“ auf jeden Fall aus den „falschen“ Gründen mögen. Im Kern ist der Plot um den arbeitslosen, spielsüchtigen Chauffeur Gi-hun (Lee Jung-jae), der gemeinsam mit 455 anderen Hochverschuldeten an einem perversen Wettkampf auf  Leben und Tod teilnimmt, um an das gigantische Preisgeld von 45,6 Milliarden Won (etwa 33 Millionen Euro) zu gelangen, vor allem 🔎 Sozialkritik.

Es gibt allerdings genug andere Schauwerte, welche die unbequemen Standpunkte, die Drehbuchautor und Regisseur Hwang Dong-hyuk hier – teilweise recht plakativ, teilweise sehr nuanciert – einflicht, überschatten können. Gewalt als visuelle Attraktion, beispielsweise. 

Und sicherlich besteht auch die Möglichkeit, dass man die falschen Lehren aus der Geschichte zieht: etwa, wenn man sich einzig auf die Chance fokussiert, dass es in „Squid Game“ wie im kapitalistischen Wettbewerb auch Gewinner*innen geben muss. Dass am Ende ja trotzdem jemand übrigbleibt, der mit dem ganz großen Jackpot nach Hause geht – und darüber vergisst, wie gering diese Chance ist und wie viele Opfer der Prozess fordert, selbst wenn man selbst nicht dazugehören sollte.

Damit die Serie eine angebrachte Wut oder zumindest Unbehagen statt deplatzierter Hoffnungen oder bloßer Faszination weckt, braucht es zwar nicht viel Reflexion, aber es braucht sie. Genau deswegen ist sie auch für Kinder gänzlich ungeeignet, wie jüngste Meldungen von Schulhöfen demonstrieren, auf denen die Spiele nachgeahmt und das Morden durch Ohrfeigen und Beleidigungen ersetzt wurden.

 

Beruhigungspille „Bridgerton“

Und genau das unterscheidet den neuen Spitzenreiter vom alten: Egal ob man „Squid Game“ nun für das kritische Potenzial schätzt oder aus anderen Gründen – die Serie besitzt es immerhin. „Bridgerton“ hingegen ist von Anfang an als nicht mehr als eine große Beruhigungspille angelegt.

Die Produktion geriert sich nämlich als „utopisches“ Historiendrama. Sofern auch ein in die Vergangenheit blickender Plot falsche Zuversicht für die Zukunft versprechen kann, tut sie das. Zumindest teilweise, aber dazu später mehr.

Kurze Rekapitulation, worum es überhaupt geht: Es ist das Jahr 1813 in London, die Ballsaison hat gerade begonnen und die jungen Damen der feinen Gesellschaft müssen buchstäblich an den Mann gebracht werden. Die titelgebende Familie Bridgerton steht neben den konkurrierenden Featheringtons im Fokus. Tochter Daphne (Phoebe Dynevor) verliebt sich in den Duke of Hastings (Regé-Jean Page) und damit in jemanden, den ihre Familie nicht als geeignetes Heiratsmaterial betrachtet.

Aber ach, er ist doch so gutaussehend und hatte eine traumatische Kindheit – wer soll da widerstehen können? Die weibliche Zuschauerschaft jedenfalls nicht, so zumindest das leicht zu durchschauende Kalkül, das hinter der Figur steckt.

Ein bisschen eklig ist so viel billige Berechnung zwar, überraschend aber nicht. Schließlich hat Julia Quinn, die die Buchvorlage verfasste, ihren Künstlernamen extra so gewählt, dass ihre Romane im Laden direkt neben denen der Liebesroman-Autorin Amanda Quick stehen. Auch ein bisschen eklig.

 

Mehr „Pepp“, bitte!

Dieses ziemlich abgedroschene Szenario wird durch eine Prise „Gossip Girl“ aufgepeppt. Und ja, dieses Mal stimmt die Wortwahl: „Aufpeppen“ klingt nach einer Ü-50-Gruppe von, mit ihrem Leben eher so mittel zufriedenen, Gabis, die beschlossen hat, heute mal richtig die „Sau rauslassen“ zu wollen und deswegen zu Schlager-Hits von Helene Fischer im Regio schon mal den Prosecco und die pinkfarbenen Partyhütchen ausgepackt hat.

Und sollte das die tatsächliche Zielgruppe sein, wäre ja auch alles fein. Grundsätzlich ist gegen leichte Unterhaltung gar nichts einzuwenden, schließlich braucht jede*r von Zeit zu Zeit etwas Eskapismus. Selbst wenn es mindestens schade wäre, wenn es ausgerechnet eine relativ gehaltlose Serie auf den ersten Platz der Netflix-Charts schafft. Wirklich problematisch wird es erst, wenn sie behauptet mehr zu sein, als sie wirklich ist. Und die Kritik diese Behauptung dankbar aufgreift.

Beides geschah im Fall von „Bridgerton“ – vor allem aufgrund des diversen Cast. Genauer gesagt: Aufgrund der Tatsache, dass einige der Figuren Schwarz sind. Vielfach wurde die Produktion deswegen für ihr „Color Blind Casting“ gelobt, aber dass ein solches stattgefunden hätte, ist nicht zutreffend. Das würde bedeuten, dass die ethnische Zugehörigkeit der Schauspieler*innen keine Rolle spielt.

Wäre dem so, wäre die Serie mit meiner zuvor gegebenen Beschreibung des Plots voll umfänglich beschrieben. Tatsächlich aber thematisiert die Serie die ahistorisch diverse Oberschicht ausdrücklich, aber auf eine derart fatale Art und Weise, dass das Label „progressiv“, mit dem sich die Produktion gerne schmückt, einfach nicht passt.

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Liebe besiegt einfach alles! Oder so.

In einem Gespräch zur Hälfte der Serie wird erklärt, dass sich King George in eine Schwarze Frau, Queen Charlotte (Golda Rosheuvel), verliebt hätte und seither aus „zwei geteilten Gesellschaften“ eine wurde. Das genügt also, um ausnahmslos jeden beleidigende Kommentar und jeden schrägen Blick aus der ansonsten weiterhin sehr herablassend agierenden „besseren Gesellschaft“ zu verdammen.

Diese „Liebe besiegt einfach alles, selbst Kolonialismus und Sklaverei“-Haltung ist zynisch und macht jahrhundertelanges, weiterhin nicht vollends ans Ziel gelangtes antirassistisches Engagement lächerlich.

Kritik an der Leichtfertigkeit, mit der „Bridgerton“ das Ende des Rassismus erklärt, versuchte man gemeinhin damit abzuwehren, dass es sich nun mal um eine (historische) Utopie handele. Aber auch dieses Argument geht nicht wirklich auf: Im Historiendrama müssen sich Homosexuelle weiter verstecken und die misogyne Auffassung, dass mit Jungfräulichkeit irgendeine Form von erstrebenswerter Tugendhaftigkeit verbunden ist, regiert weiterhin.

Aber hey, dafür gibt es explizite Sexszenen, sogar Frauen masturbieren und die Streicher geben Billie Eilish zum Besten. Hate to break it to you, aber wer darunter Fortschritt versteht, gibt sich mit zu wenig zufrieden.

Wie gesagt: Den großen Erfolg von „Squid Game“ macht letztlich vielleicht gerade nicht seine kritische Haltung aus. Dass sich die Serie an mehr wagt, als ihren Zuschauer*innen mit ein paar Lippenbekenntnissen eine rückwärtsgewandte Story als aufgeklärt zu verkaufen, macht sie aber in jedem Fall zu einem verdienteren Top-Platzierten.

Nachdem nach „Bridgerton“ nun auch für die südkoreanische Produktion eine zweite Staffel angekündigt wurde, scheint das Rennen aber noch nicht beendet.

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