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Streaming-Kolumne

Netflix: Ist das gute Unterhaltung oder kann das weg?

Staffellauf #3 von Arabella  •  19. August 2021

In der Anfangszeit stand der Streamingdienst noch für Innovation, jetzt droht die Marke mit neuen Reality-Formaten weiter zu verwässern.

Manch ein*e Leser*in mag bei der Lektüre dieser Kolumne bereits über den Titel stolpern: Ja, gemeinhin stellt sich die Frage nach der Kunst, nicht nach guter Unterhaltung. Tatsächlich habe ich lange überlegt, wie ich sie für diesen Text formulieren soll. Dass ich es letztlich nicht über mich gebracht habe, Netflix mit Kunst zu assoziieren, sagt für mich bereits viel über den momentanen Zustand des weltgrößten Streaming-Anbieters aus.

Um meinen Standpunkt klarzumachen: Meine Idee von Kunst ist nicht sehr elitär. Ich teile keinesfalls die Auffassung, wonach sie nur in Museen, Theatern, auf Konzerten und vielleicht noch im Kino zu finden sei. Meine Lieblingsdefinition stammt von Johann Wolfgang von Goethe: „Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen.“

Der Ironie, die diese Eingrenzung für meinen Beruf als Filmkritikerin bedeutet, bin ich mir durchaus bewusst. Über Serien und Filme zu sprechen, ihre Bestandteile zu analysieren und einzuordnen, ist das, was meine Tätigkeit ausmacht. Und trotzdem ist Kunst für mich dann besonders groß, wenn sich die Töne, Worte und Bilder, aus denen sie sich zusammensetzt, jeder Beschreibung entziehen. Wenn jeder Versuch, über sie zu sprechen, wie ein schwacher Abglanz wirkt und sie wirklich zu fassen misslingen muss. Dann nämlich, wenn sie eine ureigene Empfindung oder etwas wie auch immer geartetes Neues beschreibt.

 

Serien von gesellschaftlicher Tragweite

Wohlwollend ausgelegt, brachte Netflix gerade zu Beginn durchaus einige Eigenproduktionen hervor, die man nach dieser Definition als kunstvoll bezeichnen kann. Immerhin gelang es Dramedy-Serien, wie „Orange is the New Black“ um eine Gruppe inhaftierter (queerer) Frauen von höchst unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen, neue Erzählstandards zu setzen und neue Perspektiven zu Wort kommen zu lassen. Die gezeigten Geschichten mögen nicht unaussprechlich gewesen sein – die Idee, eine teure Serie über sie zu produzieren, in vielen Sendeanstalten und Produktionsfirmen wiederum lange schon.

Auch wenn man nicht jedem „Original“, das Netflix danach realisiert hat, eine ähnliche gesellschaftliche Tragweite unterstellen kann, dann doch zumindest einen gewissen Hang zur Innovation. Man denke an die elegante Unaufgeregtheit, mit der „House of Cards“ von skandalöser Abgeklärtheit des Politikbetriebs erzählte, oder die Leichtfüßigkeit, mit der „BoJack Horseman“ den Stil einer Animationsserie mit einer schweren Thematik, wie Depressionen, verbunden hat. Wenn schon nicht für große Kunst, hat sich Netflix so mindestens für gute Unterhaltung einen Namen gemacht.

Weiterhin erfahren die Produktionen von Netflix immer wieder große Anerkennung bei den wichtigsten Branchenpreisen. Bei den Emmys konnten die Serien des Medienunternehmens allein in diesem Jahr 129 Nominierungen auf sich vereinen, stolze 16 Filme wurden bei den Oscars mit einer solchen bedacht. Und doch hat sich beim Anbieter etwas grundlegend verändert.

 

Tschüss Qualität, hallo Trash?

Vor das Image als „Love Brand“ – also das einer Marke, mit der Nutzer*innen überwiegend sehr positive Gefühle verbinden – drängt sich immer mehr das eines nüchtern kalkulierenden Großkonzerns. Wo lange der Eindruck dominierte, dass sich Netflix prioritär Projekten widmet, die eine soziale oder künstlerische Bedeutung haben, kommt immer mehr ein in erster Linie nach taktisch-finanziellen Gesichtspunkten bewertendes Kalkül zum Vorschein.

Nicht nur, dass zuerst ihre angenommene wirtschaftliche Rentabilität über die Fortsetzung einer Serie bestimmt – mehrere aktuelle Meldungen unterstreichen den vor sich gehenden Geisteswandel zusätzlich. Gerade etwa macht das Unternehmen mit dem „größten Casting-Call aller Zeiten“ von sich reden. In den USA, Kanada, Irland und dem Vereinigten Königreich können sich Zuschauer*innen gleich auf zwölf verschiedene Reality-Formate bewerben.

Das Dutzend setzt sich – neben „Queer Eye“ und „Aufräumen mit Marie Kondo“, die beide immerhin bereits einen gewissen Kultstatus erreicht haben – hauptsächlich aus altbekannten, stets nach ähnlichem Schema funktionierenden Formaten zusammen. Darunter Dating-Formate, wie „Love is blind“, Koch- und Back-Sendungen, wie „The American Barbecue Showdown“ und „Nailed it!“, sowie Game-Shows wie „Floor is Lava“. Alles Zeug also, mit dem man längst vertraut ist – ob man will, oder nicht – weil es seit Jahren das Programm zahlreicher Privatsender dominiert.

 

Allmachtsfantasie oder Finanzkalkül?

Die Gründe dafür, dass Netflix sein Portfolio um eine Reality-Show-Offensive erweitert, können natürlich ganz verschiedene sein. Sicherlich stehen auch finanzielle Erwägungen hinter der Entscheidung, denn Trash-TV ist nun mal wesentlich günstiger als echte Qualitätssendungen. Andererseits streckt der Konzern seine Fühler gerade in viele Richtungen aus, die wenig mit der Ursprungsidee des Unternehmens gemeinsam haben: Demnächst sollen auf der Plattform auch Games zu Verfügung gestellt werden. Sind es also doch eher Allmachtsfantasien à la Jeff Bezos, die den Streaming-Riesen antreiben? Schließlich stand Amazon am Anfang auch einmal „nur“ für Bücher, bevor der Konzern nach absoluter Marktdominanz strebte.

Egal welche Motivationen letztlich dahinterstecken: Der beunruhigende Trend, dass die einstige „Love Brand“ stetig erweitert und dadurch weiter verwässert wird, ist schwer zu verleugnen. Netflix wäre nicht der erste Anbieter, dem eine solche Entwicklung auf lange Sicht den Garaus macht – dafür muss man sich nur des traurigen Schicksals des einst von unzähligen Teenager*innen heißgeliebten, ja identitätsstiftenden, TV-senders MTV besinnen.

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